Beitragsbild Pfarrarchiv

1952 – DER TAG ALS DIE GLOCKE SCHWIEG

Ein Lausbubenstreich von Georg Buchner
1982 nacherzählt von Walter Odo Weyerer
Sieben Jahre waren seit dem Ende des letzten Krieges vergangen. Die ganzen Lebensumstände waren damals recht bescheiden, besonders in unserer zwölfköpfigen Familie. Wir hatten weder Spielplätze noch das Freizeitangebot unserer Tage; selbst Spielzeug war eine Rarität. Wir haben uns unsere Spiele noch selber erfunden und das ist für Kinder keine schlechte Vorbereitung auf das Leben.

Es war in den großen Ferien, als ich mein zehntes Lebensjahr vollendete und ein wichtiges Erlebnis auf meine Entwicklung Einfluss nahm. Ich hatte zum ersten Mal etwas über Tom Sawyer und Hucklberry Finn gelesen. Und das hat mir natürlich gewaltig imponiert. Ich bin mir ein wenig wie der Tom Sawyer vorgekommen und mein Freund, der Koptisch Peter, ein Flüchtlingsbub, so ähnlich wie der Huck Finn; zwar nicht von der Figur her, denn er war eher ein wenig füllig und behäbig, aber doch aus dem Kreis der Flüchtlinge, die damals noch längst nicht als gleichwertige und gleichberechtigte Dorfbewohner gegolten haben.

Wenn ich mich recht erinnere, ist es der Herz-Jesu-Freitag gewesen. Vormittags hatten wir zwei bei einer Beerdigung ministriert. Als die Kirche leer war, haben wir, wie schon oft zuvor, zwischen den leeren Bänken nach Kleingeld gesucht, das den Leuten, den alten vor allem, gelegentlich auf den Boden gefallen ist, wenn sie in der Tasche oder im Geldbeutel nach kleiner Münze gesucht haben. Wir sind selten leer ausgegangen dabei. Auch diesmal hat es für eine Schachtel Zigaretten gereicht und wir haben verabredet, uns am Nachmittag wieder zu treffen und hoch droben unterm Kirchturmdach rauchend die schöne Aussicht und das gewisse Gefühl von Verwegenheit und Verbotenem zu genießen. Für den der sich gut auskannte in und über der Kirche, war es nicht allzu schwer, dorthin vorzudringen, wo Besucher im Allgemeinen keinen Zutritt hatten. Auch in den Turm zu gelangen war nicht jedem möglich; es sei denn, der Mesner hatte wieder einmal vergessen, alle Türen zuzusperren. Das Uhrwerk der Turmuhr musste nämlich jeden Tag aufgezogen werden; eine Aufgabe, die der Mesner ganz gern an uns Ministranten delegiert hatte. Wir haben uns deshalb recht gut ausgekannt da oben. Trotzdem sind wir noch gelegentlich erschrocken, wenn wir plötzlich vor gipsernen Heiligen gestanden sind, die in den Mauernischen des Turms aufbewahrt wurden und, je nach den Lichtverhältnissen, manchmal eine recht gespenstische Szenerie abgaben.

An dem besagten Tag war die Tür zum Chor, dem zweiten Geschoß der Empore, wo die Orgelbank stand und die Sänger und Musiker ihren Beitrag zu den festlichen Gottesdiensten leisteten, verschlossen. Für uns stellte dies kein großes Hindernis dar. Im Bereich der Hohen gotischen Seitenfenster endete die Decke über der Männerempore an der Laibungskante. Ich, der schlankere und wendigere, kletterte durch die Fensternische um den hölzernen Deckenabschluss herum in den Chor hinauf und half dann dem Peter von oben hinterher. Von da an war es leicht weiterzukommen, über mehrere Holztreppen zu dem Geschoß in dem das Turmuhrwerk stand, weiter in die Glockenstube, dann über Steigbäume – Leitern mit Sprossen, die, durch einen Balken gesteckt, links und rechts herausragten – bis auf eine Höhe, wo der Dachstuhl für den spitzen Turmhelm ansetzte, und wo man durch eine Luke auf der Südseite weit hinausschauen konnte übers Land. Dort konnten wir so recht gemütlich und garantiert ungestört dem neuentdeckten Laster, dem Rauchen, frönen und faulenzen.

In dieser „besinnlichen“ Stunde, hoch über den Dächern unseres Dorfes, kam mir, meiner heimlichen Rolle als Tom Sawyer eingedenk, eine famose Idee. So ist sie mir jedenfalls erschienen. Um vier Uhr musste der Mesner, wie damals der Brauch, eine Stunde vorher auf die für fünf Uhr angesetzte Herz-Jesu-Andacht aufmerksam machen. Das musste eine Gaudi abgeben, wenn der Mesner drunten eifrig am Seil ziehen, die Glocke aber keinen Ton von sich geben würde! Schnur oder Strick gehörten zur Standardausrüstung einer Bubenhosentasche. Gedacht, getan! Mit allem, was wir an Strick und Schnur in den Taschen fanden, haben wir den Schwengel, den Klöppel der Stundenglocke, umwickelt und die Enden fest verknüpft.

Nachdem wir eine knappe halbe Stunde gewartet hatten, fing es im Glockenstuhl an zu ächzen, begann die Glocke zu schwingen gab es auch ein eigenartig dumpfes Geräusch, als der Schwengel anschlug; aber es war kein Glockenton und der Mesner hat tief unten im Turm bestimmt nichts davon gehört. Die Stundenglocke hatte eine Weile „stumm“ geläutet, da fing plötzlich die benachbarte Glocke an zu schwingen und bald auch richtig zu läuten. Aha, haben wir kombiniert, jetzt hat er es gemerkt. „Wenn er jetzt raufsteigt zum Nachschau‘n, was da los ist; wie der schau‘n wird, wenn alles stimmt!“ Schnell stiegen wir in die Glockenstube hinunter, wickelten, ungeachtet des Dröhnens der Glockenschläge in unseren Ohren, den Schwengel der Stundenglocke wieder aus, kletterten zurück zu unserem Versteck und vorsorglich noch um ein Stockwerk höher, bis in den Turmdachstuhl. Und schon kam der Mesner Haider keuchend heraufgestiegen, redete, in der Glockenstube angekommen, mit sich selber, probierte mit Erfolg aus, ob die Glocke erklang, wenn er den Schwengel anschlug und konnte absolut nichts entdecken, was eine Erklärung für das vorherige „Schweigen“ der Glocke abgegeben hätte. Wie er dann noch etwas vor sich hinsagte, wie „Ja is den da a Geist herobn?“, da hab ich mich nicht mehr beherrschen können und einen prustenden Kicherer losgelassen, dass uns angst und bange geworden ist.

Der Mesner hat‘s aber anscheinend nicht gehört oder er hat sich’s so wenig erklären können wie das Vorhergehende. Jedenfalls sind wir heilfroh gewesen, wie der Haider wieder hinunterzusteigen begann. Denn darüber sind wir uns im Klaren gewesen: Wenn der Haider uns erwischt hätte, eine Tracht Prügel wäre uns in seinem Jähzorn sicher gewesen.

Die Ursache und die Urheber jenes seltsamen Schweigens der Stundenglocke sind unser Geheimnis geblieben. Erst viele Jahre später, wie der Haider schon ein alter Mann und nicht mehr Mesner war, ist die Rede auf diese merkwürdige Begebenheit gekommen. Er hat sich natürlich gleich erinnert, nachdem ich meine Täterschaft eingestanden hatte. Für ihn war es kein Grund mehr zum Ärgern, wohl aber zu einem herzhaften Gelächter. Und heute, 30 Jahre danach, sollen es ruhig alle wissen, die es interessiert. Hinweis zur Geschichte: Georg Buchner, lebte in Ampfing und die Geschichte ereignete sich natürlich in der Pfarrkirche Ampfing. Georg Buchner verstarb leider im Dezember des letzten Jahres. Er hat den Ort Ampfing sehr geprägt. Viele Jahre war er 2. Bürgermeister und auch mit der Pfarrgemeinde war er sehr verbunden als Sänger im Kirchenchor oder über die Blasmusik. Diese lustige Geschichte trägt sicher dazu bei, dass er uns allen unvergessen bleibt.